Märchenhafte Leinwandtrips

In früheren Tagen, da lautete das Motto: Wer Märchen fürs Kino verfilmt, der sollte das möglichst werkgetreu tun. Das ist heute anders: Je schräger, je origineller, je andersartiger, desto besser, heißt nun die Devise.

Es war einmal… Welches Kind hat nicht schon Hunderte Male jenen spannenden und aufregenden Geschichten gelauscht, die stets mit diesen drei Worten begannen und die wir landläufig als Märchen bezeichnen. Ob Dornröschen oder Rapunzel, Rumpelstilzchen oder Hans im Glück - irgendwann hatte jeder seinen Lieblingshelden, seine Lieblingsprinzessin, seine Lieblingsstory gefunden. Auch den Filmemachern erging es da nicht viel anders, auch sie erlagen der Faszination dieser fantasievollen Erzählungen, und so ist es kaum verwunderlich, dass Leinwandadaptionen von Märchen beinahe so alt sind wie das Kino selbst. Besonders beliebt - damals wie heute - sind Zeichentrickversionen, vor allem aus dem Hause Disney. Gleich der erste abendfüllende Film des Studios war “Schneewittchen und die sieben Zwerge", er stammt aus dem Jahre 1937 und gilt heute noch als Meilenstein der Kinogeschichte.

Erst Weihnachten 2013 feierte Disney mit der Adaption von Hans Christian Andersens “Die Schneekönigin” einen Riesenhit. Das 53. Werk lockte unter dem Titel “Die Eiskönigin - Völlig unverfroren” allein in Deutschland fast fünf Millionen Fans vor die Leinwand, eine Fortsetzung wird gerade vorbereitet. Große Tradition besitzt der Märchenfilm auch in der ehemaligen Tschechoslowakei. Dort entstand 1973 gemeinsam mit der DEFA, dem staatlichen Filmstudio der DDR, “Drei Haselnüsse für Aschenbrödel”, der längst Kultstatus genießt und Jahr für Jahr an Weihnachten das TV-Programm bereichert. Und natürlich gebührt auch dem großen grünen Oger aus den zahlreichen “Shrek”-Blockbustern eine lobende Erwähnung. Schließlich hat auch er das Genre entscheidend geprägt.

Furios: Matt Damon und Heath Ledger als Gebrüder Grimm

Was die meisten Märchenfilme allerdings auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie sich meist sehr eng an die literarische Vorlage halten und das geschriebene Wort mehr oder weniger 1:1 in bewegte Bilder umsetzen. Ausnahmen sind etwa die “7 Zwerge”-Komödien “Männer allein im Wald” und “Der Wald ist nicht genug”, wo das Grimmsche Märchen von “Schneewittchen und den sieben Zwergen” als Aufhänger für eine Klamauk-Show deutscher Komiker um Otto Waalkes, Mirco Nontschew und Martin Schneider dient.

Auch viele Filme des Regie-Genies Tim Burton fallen unter die Kategorie Märchenfilm, sei es nun “Edward mit den Scherenhänden”, “Charlie und die Schokoladenfabrik” oder “Alice im Wunderland”, dessen Fortsetzung “Hinter den Spiegeln” am 26. Mai in die Kinos kommt. Burton hat hier mit seiner unverwechselbaren Handschrift eine eigene (Märchen-)welt kreiert, die ganz für sich steht und mit nichts anderem zu vergleichen ist. Außer vielleicht mit jener des Terry Gilliam. Der US-amerikanische Altmeister, der sich mit bahnbrechenden Regiearbeiten wie “Die Ritter der Kokosnuß”, “Time Bandits” oder “Brazil” unsterblich gemacht hat, kam 2005 auf eine verrückte Idee. In “Brothers Grimm” erzählte er einmal nicht eine der berühmten Geschichten der Gebrüder nach, sondern stellte Jacob und Wilhelm Grimm selbst in den Fokus der Handlung. Er zeigt die beiden als durchtriebene Gauner, die Hexen und Dämonen vertreiben, für dessen Erscheinungen sie selbst zuvor gesorgt haben. Das ist witzig, schräg und spektakulär, vor allem in jenen Sequenzen, in denen die von Matt Damon und Heath Ledger gespielten Schwindler mit einer echten Hexe konfrontiert werden und arg in die Bredouille geraten.

Blutige Action mit Hänsel und Gretel als Hexenjäger

Gilliam könnte man durchaus als eine Art Vorreiter des subversiven, des etwas anderen Märchenfilms bezeichnen, denn in der Folge versuchten sich zahlreiche weitere Regisseure an sehr freien Verfilmungen und hatten dabei mehr ein erwachsenes Publikum im Visier. Wie zum Beispiel Rupert Sanders mit “Snow White & the Huntsman”. Er machte aus dem Grimm-Klassiker ein gigantisches Fantasy-Abenteuer, in dem ein Jägersmann (Chris Hemsworth) auf Geheiß der bösen Königin (Charlize Theron) das schöne Schneewittchen (Kristen Stewart) töten soll, sich aber dummerweise in sein Opfer unsterblich verliebt. Noch schauerlicher geht es in “Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond” zu.

Catherine Hardwicke, Regisseurin der “Twilight”-Serie, macht aus der Rotkäppchen-Story einen Horror-Thriller, in dem sich die in Purpur gewandete Valerie (Amanda Seyfried) einen Werwolf vom Leibe halten muss. Richtig blutig wird es, wenn der norwegische Splatter-Spezialist Tommy Wirkola (“Dead Snow”) sich an einem weiteren Grimmschen Highlight, nämlich “Hänsel und Gretel”, vergreift. Er verwandelt das von Jeremy Renner und Gemma Arterton verkörperte Geschwisterpaar in zwei furchtlose “Hexenjäger”, die ihren Wald von allerlei teuflischen Kreaturen befreien. Ein blutiger Actionspaß mit Horror-Touch, der in diesem speziellen Fall nun wirklich nicht für Kinder geeignet ist.

Angelina Jolie gibt sich als böse Fee aus “Dornröschen” menschlich

Weitere sehenswerte Neuinterpretationen, die sich etwas trauen und andere Wege gehen, sind “Spieglein Spieglein - Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen”, der vor allem auf komödiantischer Ebene und mit einer hinreißenden Julia Roberts als giftiger Stiefmutter punktet, und “Maleficent - Die dunkle Fee”, in dem Hauptdarstellerin und Produzentin Angelina Jolie der gar nicht so bösen Fee aus “Dornröschen” ein Forum gibt. Zuletzt gab dann Disney wieder den Ton an.

“Chicago”-Regisseur Rob Marshall durfte in dem mit Meryl Streep, Emily Blunt und Johnny Depp genial besetzten Musical “Into the Woods” zahlreiche Märchen von “Rotkäppchen” über “Rapunzel” bis hin zu “Hans und die Bohnenranke” miteinander vermischen, und Kenneth Branagh schaffte es doch tatsächlich, mit “Cinderella” dem immer wieder gerne genommenen “Aschenputtel”-Märchen neue Aspekte abzugewinnen. Auch hier sind es die Schauspieler, die die Akzente setzen, neben Lily James aus der Serie “Downton Abbey” sind dies vor allem Cate Blanchett als fiese Stiefmutter und Helena Bonham Carter als liebenswerte Fee. Und wenn es dann zum Schluss wieder heißt “Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage”, hat sich der märchenhafte Kreis auf wunderbare Weise wieder geschlossen.

Fotos: ddp

Autor: Thomas Lassonczyk